Ein Dorf, 23. Juli 2013, 19:42 Uhr
Sophie-Barbara Schwarz, zu ihrem
eigenen Leidwesen von allen stets Bärbel genannt, traf fast gleichzeitig mit
dem Notarzt am Unfallort ein. Als sie die Sirenen gehört hatte, hatte sie
zunächst angenommen, es habe bei einem dieser unsäglichen Fußballturniere einen
Unfall gegeben und es hatte sie mit heimlicher Häme erfüllt, denn diese
Fußballer parkten ihr ja doch nur die Einfahrt zu, sodass sie nicht mit dem
Auto aus der Garage kam – nicht, dass sie das wollte, aber nur mal angenommen
sie würde wollen…
Die Fußballer jedenfalls waren
es nicht gewesen, wie sie schnell erfahren hatte, als ihre beste Freundin
Monika, eine Klatschbase sondergleichen die kein Gefühl für Mode hatte, dafür
aber sämtliche Königshäuser Europas ebenso gut kannte wie ihre eigenen Nachbarn,
sie angerufen hatte um ihr zu sagen, dass es einen Unfall am Bahnübergang
gegeben habe. Jemand war offenbar vom 19:16 Uhr Zug nach Trier erfasst worden. Leider
hatte Monika nicht erkennen können, wer es war (vermutlich war sie mal wieder
zu eitel gewesen ihre Brille aufzusetzen. Andererseits, dachte Bärbel, wenn sie
so ein Pfannkuchengesicht hätte…), dabei wohnte sie doch am Bahnsteig. Jedenfalls
hatte Bärbel sich auf ihr Fahrrad geschwungen (verdammte Fußballer, mit dem
Auto wäre sie schneller gewesen!) und kam nach fünf Minuten bei Monika an, die
sie schon vor der Haustür erwartet hatte, sodass sie sich gleich zum Unfallort
aufmachen konnten.
Sie waren nicht die ersten,
bereits andere waren von den Sirenen angelockt worden. Doch niemand kam nah
genug heran um etwas sehen zu können, da neben zwei Rettungswagen auch einige
Polizeiautos gekommen waren und die Polizisten nicht nur die Rettungswagen vor
Blicken schützten sondern auch den gesamten Bahnübergang abgeschirmt hatten.
Der Zug, ein roter Talent, dessen hinterster Wagon mit Graffiti beschmiert war,
stand ein Stück weiter, die Passagiere wurden grade hinaus gelotst und zur
anderen Seite des Bahnübergangs geleitet, wo Bärbel ihnen keine Fragen stellen
konnte. Musste sie sich also an jemanden anders wenden. Sie sah sich um und
entdeckte Annegret Schröder, mit der sie zusammen die örtliche Hauptschule
besucht hatte, 20 Jahre war das jetzt her. Annegret wohnte nah am Bahnübergang
und hatte eine große Traube Menschen um sich versammelt – sie musste etwas
gesehen haben! Bärbel konnte Annegret nicht ausstehen. Mit einem breiten
Lächeln ging sie auf sie zu und rief:„Anne, du hier! Wie schön dich zu sehen!“
Auch Annegret mochte Bärbel nicht und so antwortete sie:„Bärbel, komm, lass
dich drücken!“ Die beiden umarmten sich kurz und Bärbel fand, dass Annegret ein
grässliches Parfum benutzte. Kaum, dass sie sich voneinander gelöst hatten,
sprudelte Annegret auch schon los:„Hast du es schon mitbekommen? Sabrinas
Jüngste ist vom Zug überfahren worden. Ich glaube, sie ist tot!“ Bärbel war ganz außer sich. Tot! Ein handfester Skandal im
Dorf, endlich ein Thema, über dass es sich zu tratschen lohnte, nicht so etwas
wie die leidige Frage, welchen Namen Kates Sohn bekommen würde. Laut sagte
sie:„Tot? Nein wie furchtbar! Das Mädchen war doch erst sechszehn! Die arme
Sabrina!“ Dabei hatte sie schon immer gefunden, dass Sabrina eine schlechte
Mutter abgab. Viel zu liberal. Sicher hatte der Tod ihrer Tochter – wie hieß
sie doch gleich? Chantal- nein! Jasmin! – etwas damit zu tun.
„Wie konnte denn das
passieren?“, fragte Monika und Bärbel fügte flüsternd hinzu:„War sie vielleicht
betrunken?“ Bei der heutigen Jugend wusste man ja nie! Die betranken sich,
rauchten und nahmen Drogen. Und dann taten sie im Suff dumme Dinge! Wenn sie
ihren Sohn mit einem Bier erwischen würde, nein, da würde sie aber andere
Saiten aufziehen! „Ich weiß nicht.“, sagte nun Annegret, „Aber sie war nicht
allein!“ „Und?“, fragten sogleich die anderen Frauen der Gruppe, „Sag schon,
wer war bei ihr?“ Annegret wartete eine kleine Weile um die Spannung ihrer
Zuhörerinnen zu steigern, dann sagte sie triumphierend:„Ein Junge. Vielleicht
18. Komisch sah der aus, mit Sonnenbrille und so.“ Ein paar „Ah!“s und „Oh!“s
kamen von den Frauen und eine von ihnen, Elke aus der Hauptstraße, fragte mit
unverhohlener Erregung:„Mit Sonnenbrille? Um die Uhrzeit? So, wie ein
Verbrecher?“ „Ich weiß nicht.“, murmelte Annegret, offenbar enttäuscht, dass
ihr der Gedanke noch nicht selbst gekommen war, „Er hielt sie so fest…“ „Ein
Zuhälter! Habt ihr mal die kurzen Röcke gesehen, in denen Jasmin immer
herläuft- herumlief, wollte ich sagen?“, sagte Bärbel gehässig. Tatsächlich
beneidete sie Jasmin um ihre schlanken Beine und ihre schmale Taille, aber dass
gestand sie sich nicht einmal sich selbst gegenüber ein. Nach der Geburt ihres
Sohnes hatte sie ein paar Pfunde zugelegt und würde in den Sommerkleidchen, die
Jasmin getragen hatte, lächerlich aussehen. „Du hast Recht!“, pflichtete Monika
ihr bei, „Wo sonst soll sie denn das Geld hergehabt haben für diese Schuhe, die
Kleider und den Schmuck?“ „Und dann die Schminke!“, ergänzte Elke und alle
nickten. So war das also! In Bärbels Kopf begann alles Sinn zu machen und so
sagte sie:„Sicher war sie eine Hure, aber sie konnte ihren Zuhälter nicht
bezahlen und da hat der sie eben umgebracht.“ Alle Frauen nickten, nur das
Mauerblümchen Eleonora merkte an, dass man nicht schlecht über Tote sprechen
solle. „Wenn‘s doch wahr ist!“, polterte Annegret und tat den Einwand Eleonoras
damit ab.
„Da kommt Beathe!“, sagte Elke und
in der Tat keuchte die Genannte grade den Hügel, der zum Bahnhof führte,
hinauf. Dass Beathe ein Freund von Lebensmitteln war, war nicht zu leugnen,
auch wenn sie ihre gewaltige Körperfülle unter voluminösen Stoffen zu verbergen
suchte. Bärbel mochte Beathe, weil sie sich neben ihr stets schlanker und
attraktiver fühlte. Mit puterrotem Gesicht und vor sich her wallendem Busen
erreichte Beathe schließlich die Gruppe. „Ich bin so schnell gekommen wie ich
konnte!“, japste sie und zeigte auf ihr Haus auf der anderen Seite des
Bahnübergangs. Durch die Sperrung der Polizei hatte sie einen ziemlichen Umweg
machen müssen. „Was hast du gesehen?“, fragte sie die Frauen sogleich doch
Beathe war noch zu sehr außer Atem und fächelte sich mit der Hand Luft zu.
Derweil ließ Bärbel den Blick
schweifen doch außer dem blauen Licht der Rettungsfahrzeuge, dass die Szenerie
in ein unheimliches Licht tauchte, war nicht viel zu sehen. Hinter den
Trennwänden, die die Polizei aufgestellt hatte, sah man Schatten auf und ab
gehen, doch nichts Konkretes. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Beathe zu,
die sich mittlerweile insoweit erholt hatte, dass sie sprechen konnte. Gesehen
hatte sie jedoch nichts – dafür aber gehört. „Ich habe mit den Leuten aus dem
Zug geredet. Sie sagen, sie sei auf die Gleise gelaufen, als der Zug kam.“,
erzählte sie aufgeregt, „Ich glaube, sie hat Selbstmord begangen!“ „Und der
Kerl, der bei ihr war?“, fragte Doris, die bisher geschwiegen hatte und deren
sonst so perfekt sitzende Haare zur Hälfte auf Lockenwicklern aufgedreht waren.
„Vielleicht ist sie ja vor ihm geflüchtet, wer weiß schon, was so ein Zuhälter
alles anstellt? Da wollte sie lieber sterben als ihm in die Hände zu fallen.“,
mutmaßte Annegret. Bärbel fand, dass diese Geschichte nicht ganz schlüssig
klang, hatte Annegret selbst doch eben noch erzählt, der Junge habe Jasmin
festgehalten. Aber sie sagte nichts, weil sie fand, dass diese Version der
Geschichte so herrlich skandalös klang. „Zuhälter?“, echote Beathe, „Die Kleine
war ’ne Nutte?“ Die Frauen nickten wichtigtuerisch und Beathe sagte
selbstgefällig:„Hab ich’s mir doch immer gedacht!“ während sie an ihrem
Oberteil herum nestelte. Eine Weile schwiegen die Frauen und sahen zur
Unfallstelle, doch dort hatte sich immer noch nichts getan.
Bewegung kam erst in die Gruppe,
als Bärbel Julia entdeckte, eine Freundin Sabrinas, die mit Sicherheit mehr
wusste. Sie winkte sie herüber und mit langsamen Schritten gesellte Julia sich
zu der Gruppe. Sie wirkte sehr bedrückt und Bärbel musste sich große Mühe geben,
nicht zu neugierig zu klingen, als sie sich bei Julia erkundigte, ob diese mehr
zu den Ereignissen wisse. Sie wusste mehr. „Es ist so furchtbar.“, sagte sie
mit leiser Stimme und umklammerte das benutzte Taschentuch in ihrer Hand. „Die
arme Jasmin, die arme Sabrina!“ Nicken von allen Seiten, mühsam unterdrückte
Neugier. „Dann ist es wahr?“, fragte Elke. Julia nickte stockend:„Jasmin ist
tot. Der Notarzt konnte nichts mehr für sie tun. Aber Michael ist wohlauf.“ „Wer
ist Michael?“, kam sogleich die Frage zurück. Ein wenig erstaunt über ihre
Unwissenheit erklärte Julia:„Na, Jasmins Freund.“ Noch bevor die anderen ihr
Erstaunen darüber zum Ausdruck bringen konnten, trat Sabrina hinter den
Trennwänden hervor, ihr Blick war suchend. Sie hielt die Arme vor dem Körper
verschränkt, ihre Augen waren rot, ihre Lippen bebten und sie zitterte am
ganzen Körper. „Entschuldigt mich.“, wisperte Julia, bückte sich unter der
Polizei-Absperrung hindurch und eilte zu Sabrina.
„Ich wusste ja gar nicht, dass
Jasmin einen Freund hatte.“, sagte Doris. „Vielleicht war es dann doch nur ein
tragischer Unfall.“, vermutete Elke. Die Richtung, die das Gespräch nahm,
gefiel Bärbel gar nicht, als sie ihren schönen Skandal schwinden sah. „Aber
findet ihr nicht, dass sie mit sechzehn viel zu jung für einen Freund war?“,
sagte sie deshalb in dem Versuch, dem ganzen doch noch etwas Skandalöses
abzugewinnen. Dass sie selbst bereits im Alter von vierzehn Jahren im örtlichen
Wäldchen ihre Unschuld an Wilfried Meyer verloren hatte, übersah sie dabei
bereitwillig. Doch sechszehn, fanden die anderen, sei kein so skandalöses
Alter.
Schließlich begann die Polizei,
die Absperrungen abzubauen, einer der Krankenwagen fuhr davon, der andere blieb
stehen. Er war offen und ein Junge von achtzehn Jahren saß darin. Er saß kerzengrade
und bewegte sich nicht. Aber unter der Sonnenbrille, deren Gläser so schwarz
waren, dass man seine Augen nicht sehen konnte, strömten Tränen hervor, doch
machte er sich nicht die Mühe, sie fortzuwischen sodass seine Wangen nass
glänzten. Sabrina trat zu ihm herüber, drückte seine Hand und sprach mit ihm,
Worte, die Bärbel durch die Distanz nicht hören konnte. Michael, wie er nun
offensichtlich hieß, antwortete, doch er bewegte sich nicht, wandte ihr nicht
einmal den Kopf zu. Wie er so dasaß, erinnerte er Bärbel an jemanden…
Plötzlich tauchte Julia wieder
bei ihnen auf. „Das ist also Michael?“, fragte Elke. „Ja.“, bestätigte Julia,
„Er ist blind, schon von Geburt an.“ Jetzt, da sie es wusste, fiel es Bärbel
wie Schuppen von den Augen. Darum die Sonnenbrille, darum das etwas sonderbare
Verhalten! „Ihr wisst ja,“, fuhr Julia fort, „dass der Signalton der Ampel
kaputt ist, er konnte nicht sehen, dass sie rot war und als der Zug kam… Jasmin
hat ihn von den Gleisen geschubst, war dann aber selbst nicht mehr schnell
genug. Es ist so tragisch!“ Alle nickten. „Eine richtige Heldin, die kleine
Jasmin.“, sagte Doris und alle pflichteten ihr bei. Jasmin, die immer
fröhliche, immer hilfsbereite – natürlich hatte es nur ein Unfall sein können,
natürlich war sie eine Heldin. Keine von ihnen hätte je etwas anderes gedacht.
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