Sonntag, 5. Januar 2014

19:16 Uhr nach Trier



Ein Dorf, 23. Juli 2013, 19:42 Uhr
Sophie-Barbara Schwarz, zu ihrem eigenen Leidwesen von allen stets Bärbel genannt, traf fast gleichzeitig mit dem Notarzt am Unfallort ein. Als sie die Sirenen gehört hatte, hatte sie zunächst angenommen, es habe bei einem dieser unsäglichen Fußballturniere einen Unfall gegeben und es hatte sie mit heimlicher Häme erfüllt, denn diese Fußballer parkten ihr ja doch nur die Einfahrt zu, sodass sie nicht mit dem Auto aus der Garage kam – nicht, dass sie das wollte, aber nur mal angenommen sie würde wollen…
Die Fußballer jedenfalls waren es nicht gewesen, wie sie schnell erfahren hatte, als ihre beste Freundin Monika, eine Klatschbase sondergleichen die kein Gefühl für Mode hatte, dafür aber sämtliche Königshäuser Europas ebenso gut kannte wie ihre eigenen Nachbarn, sie angerufen hatte um ihr zu sagen, dass es einen Unfall am Bahnübergang gegeben habe. Jemand war offenbar vom 19:16 Uhr Zug nach Trier erfasst worden. Leider hatte Monika nicht erkennen können, wer es war (vermutlich war sie mal wieder zu eitel gewesen ihre Brille aufzusetzen. Andererseits, dachte Bärbel, wenn sie so ein Pfannkuchengesicht hätte…), dabei wohnte sie doch am Bahnsteig. Jedenfalls hatte Bärbel sich auf ihr Fahrrad geschwungen (verdammte Fußballer, mit dem Auto wäre sie schneller gewesen!) und kam nach fünf Minuten bei Monika an, die sie schon vor der Haustür erwartet hatte, sodass sie sich gleich zum Unfallort aufmachen konnten.
Sie waren nicht die ersten, bereits andere waren von den Sirenen angelockt worden. Doch niemand kam nah genug heran um etwas sehen zu können, da neben zwei Rettungswagen auch einige Polizeiautos gekommen waren und die Polizisten nicht nur die Rettungswagen vor Blicken schützten sondern auch den gesamten Bahnübergang abgeschirmt hatten. Der Zug, ein roter Talent, dessen hinterster Wagon mit Graffiti beschmiert war, stand ein Stück weiter, die Passagiere wurden grade hinaus gelotst und zur anderen Seite des Bahnübergangs geleitet, wo Bärbel ihnen keine Fragen stellen konnte. Musste sie sich also an jemanden anders wenden. Sie sah sich um und entdeckte Annegret Schröder, mit der sie zusammen die örtliche Hauptschule besucht hatte, 20 Jahre war das jetzt her. Annegret wohnte nah am Bahnübergang und hatte eine große Traube Menschen um sich versammelt – sie musste etwas gesehen haben! Bärbel konnte Annegret nicht ausstehen. Mit einem breiten Lächeln ging sie auf sie zu und rief:„Anne, du hier! Wie schön dich zu sehen!“ Auch Annegret mochte Bärbel nicht und so antwortete sie:„Bärbel, komm, lass dich drücken!“ Die beiden umarmten sich kurz und Bärbel fand, dass Annegret ein grässliches Parfum benutzte. Kaum, dass sie sich voneinander gelöst hatten, sprudelte Annegret auch schon los:„Hast du es schon mitbekommen? Sabrinas Jüngste ist vom Zug überfahren worden. Ich glaube, sie ist tot!“ Bärbel war ganz außer sich. Tot! Ein handfester Skandal im Dorf, endlich ein Thema, über dass es sich zu tratschen lohnte, nicht so etwas wie die leidige Frage, welchen Namen Kates Sohn bekommen würde. Laut sagte sie:„Tot? Nein wie furchtbar! Das Mädchen war doch erst sechszehn! Die arme Sabrina!“ Dabei hatte sie schon immer gefunden, dass Sabrina eine schlechte Mutter abgab. Viel zu liberal. Sicher hatte der Tod ihrer Tochter – wie hieß sie doch gleich? Chantal- nein! Jasmin! – etwas damit zu tun.
„Wie konnte denn das passieren?“, fragte Monika und Bärbel fügte flüsternd hinzu:„War sie vielleicht betrunken?“ Bei der heutigen Jugend wusste man ja nie! Die betranken sich, rauchten und nahmen Drogen. Und dann taten sie im Suff dumme Dinge! Wenn sie ihren Sohn mit einem Bier erwischen würde, nein, da würde sie aber andere Saiten aufziehen! „Ich weiß nicht.“, sagte nun Annegret, „Aber sie war nicht allein!“ „Und?“, fragten sogleich die anderen Frauen der Gruppe, „Sag schon, wer war bei ihr?“ Annegret wartete eine kleine Weile um die Spannung ihrer Zuhörerinnen zu steigern, dann sagte sie triumphierend:„Ein Junge. Vielleicht 18. Komisch sah der aus, mit Sonnenbrille und so.“ Ein paar „Ah!“s und „Oh!“s kamen von den Frauen und eine von ihnen, Elke aus der Hauptstraße, fragte mit unverhohlener Erregung:„Mit Sonnenbrille? Um die Uhrzeit? So, wie ein Verbrecher?“ „Ich weiß nicht.“, murmelte Annegret, offenbar enttäuscht, dass ihr der Gedanke noch nicht selbst gekommen war, „Er hielt sie so fest…“ „Ein Zuhälter! Habt ihr mal die kurzen Röcke gesehen, in denen Jasmin immer herläuft- herumlief, wollte ich sagen?“, sagte Bärbel gehässig. Tatsächlich beneidete sie Jasmin um ihre schlanken Beine und ihre schmale Taille, aber dass gestand sie sich nicht einmal sich selbst gegenüber ein. Nach der Geburt ihres Sohnes hatte sie ein paar Pfunde zugelegt und würde in den Sommerkleidchen, die Jasmin getragen hatte, lächerlich aussehen. „Du hast Recht!“, pflichtete Monika ihr bei, „Wo sonst soll sie denn das Geld hergehabt haben für diese Schuhe, die Kleider und den Schmuck?“ „Und dann die Schminke!“, ergänzte Elke und alle nickten. So war das also! In Bärbels Kopf begann alles Sinn zu machen und so sagte sie:„Sicher war sie eine Hure, aber sie konnte ihren Zuhälter nicht bezahlen und da hat der sie eben umgebracht.“ Alle Frauen nickten, nur das Mauerblümchen Eleonora merkte an, dass man nicht schlecht über Tote sprechen solle. „Wenn‘s doch wahr ist!“, polterte Annegret und tat den Einwand Eleonoras damit ab.
„Da kommt Beathe!“, sagte Elke und in der Tat keuchte die Genannte grade den Hügel, der zum Bahnhof führte, hinauf. Dass Beathe ein Freund von Lebensmitteln war, war nicht zu leugnen, auch wenn sie ihre gewaltige Körperfülle unter voluminösen Stoffen zu verbergen suchte. Bärbel mochte Beathe, weil sie sich neben ihr stets schlanker und attraktiver fühlte. Mit puterrotem Gesicht und vor sich her wallendem Busen erreichte Beathe schließlich die Gruppe. „Ich bin so schnell gekommen wie ich konnte!“, japste sie und zeigte auf ihr Haus auf der anderen Seite des Bahnübergangs. Durch die Sperrung der Polizei hatte sie einen ziemlichen Umweg machen müssen. „Was hast du gesehen?“, fragte sie die Frauen sogleich doch Beathe war noch zu sehr außer Atem und fächelte sich mit der Hand Luft zu.
Derweil ließ Bärbel den Blick schweifen doch außer dem blauen Licht der Rettungsfahrzeuge, dass die Szenerie in ein unheimliches Licht tauchte, war nicht viel zu sehen. Hinter den Trennwänden, die die Polizei aufgestellt hatte, sah man Schatten auf und ab gehen, doch nichts Konkretes. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Beathe zu, die sich mittlerweile insoweit erholt hatte, dass sie sprechen konnte. Gesehen hatte sie jedoch nichts – dafür aber gehört. „Ich habe mit den Leuten aus dem Zug geredet. Sie sagen, sie sei auf die Gleise gelaufen, als der Zug kam.“, erzählte sie aufgeregt, „Ich glaube, sie hat Selbstmord begangen!“ „Und der Kerl, der bei ihr war?“, fragte Doris, die bisher geschwiegen hatte und deren sonst so perfekt sitzende Haare zur Hälfte auf Lockenwicklern aufgedreht waren. „Vielleicht ist sie ja vor ihm geflüchtet, wer weiß schon, was so ein Zuhälter alles anstellt? Da wollte sie lieber sterben als ihm in die Hände zu fallen.“, mutmaßte Annegret. Bärbel fand, dass diese Geschichte nicht ganz schlüssig klang, hatte Annegret selbst doch eben noch erzählt, der Junge habe Jasmin festgehalten. Aber sie sagte nichts, weil sie fand, dass diese Version der Geschichte so herrlich skandalös klang. „Zuhälter?“, echote Beathe, „Die Kleine war ’ne Nutte?“ Die Frauen nickten wichtigtuerisch und Beathe sagte selbstgefällig:„Hab ich’s mir doch immer gedacht!“ während sie an ihrem Oberteil herum nestelte. Eine Weile schwiegen die Frauen und sahen zur Unfallstelle, doch dort hatte sich immer noch nichts getan.
Bewegung kam erst in die Gruppe, als Bärbel Julia entdeckte, eine Freundin Sabrinas, die mit Sicherheit mehr wusste. Sie winkte sie herüber und mit langsamen Schritten gesellte Julia sich zu der Gruppe. Sie wirkte sehr bedrückt und Bärbel musste sich große Mühe geben, nicht zu neugierig zu klingen, als sie sich bei Julia erkundigte, ob diese mehr zu den Ereignissen wisse. Sie wusste mehr. „Es ist so furchtbar.“, sagte sie mit leiser Stimme und umklammerte das benutzte Taschentuch in ihrer Hand. „Die arme Jasmin, die arme Sabrina!“ Nicken von allen Seiten, mühsam unterdrückte Neugier. „Dann ist es wahr?“, fragte Elke. Julia nickte stockend:„Jasmin ist tot. Der Notarzt konnte nichts mehr für sie tun. Aber Michael ist wohlauf.“ „Wer ist Michael?“, kam sogleich die Frage zurück. Ein wenig erstaunt über ihre Unwissenheit erklärte Julia:„Na, Jasmins Freund.“ Noch bevor die anderen ihr Erstaunen darüber zum Ausdruck bringen konnten, trat Sabrina hinter den Trennwänden hervor, ihr Blick war suchend. Sie hielt die Arme vor dem Körper verschränkt, ihre Augen waren rot, ihre Lippen bebten und sie zitterte am ganzen Körper. „Entschuldigt mich.“, wisperte Julia, bückte sich unter der Polizei-Absperrung hindurch und eilte zu Sabrina.
„Ich wusste ja gar nicht, dass Jasmin einen Freund hatte.“, sagte Doris. „Vielleicht war es dann doch nur ein tragischer Unfall.“, vermutete Elke. Die Richtung, die das Gespräch nahm, gefiel Bärbel gar nicht, als sie ihren schönen Skandal schwinden sah. „Aber findet ihr nicht, dass sie mit sechzehn viel zu jung für einen Freund war?“, sagte sie deshalb in dem Versuch, dem ganzen doch noch etwas Skandalöses abzugewinnen. Dass sie selbst bereits im Alter von vierzehn Jahren im örtlichen Wäldchen ihre Unschuld an Wilfried Meyer verloren hatte, übersah sie dabei bereitwillig. Doch sechszehn, fanden die anderen, sei kein so skandalöses Alter.
Schließlich begann die Polizei, die Absperrungen abzubauen, einer der Krankenwagen fuhr davon, der andere blieb stehen. Er war offen und ein Junge von achtzehn Jahren saß darin. Er saß kerzengrade und bewegte sich nicht. Aber unter der Sonnenbrille, deren Gläser so schwarz waren, dass man seine Augen nicht sehen konnte, strömten Tränen hervor, doch machte er sich nicht die Mühe, sie fortzuwischen sodass seine Wangen nass glänzten. Sabrina trat zu ihm herüber, drückte seine Hand und sprach mit ihm, Worte, die Bärbel durch die Distanz nicht hören konnte. Michael, wie er nun offensichtlich hieß, antwortete, doch er bewegte sich nicht, wandte ihr nicht einmal den Kopf zu. Wie er so dasaß, erinnerte er Bärbel an jemanden…
Plötzlich tauchte Julia wieder bei ihnen auf. „Das ist also Michael?“, fragte Elke. „Ja.“, bestätigte Julia, „Er ist blind, schon von Geburt an.“ Jetzt, da sie es wusste, fiel es Bärbel wie Schuppen von den Augen. Darum die Sonnenbrille, darum das etwas sonderbare Verhalten! „Ihr wisst ja,“, fuhr Julia fort, „dass der Signalton der Ampel kaputt ist, er konnte nicht sehen, dass sie rot war und als der Zug kam… Jasmin hat ihn von den Gleisen geschubst, war dann aber selbst nicht mehr schnell genug. Es ist so tragisch!“ Alle nickten. „Eine richtige Heldin, die kleine Jasmin.“, sagte Doris und alle pflichteten ihr bei. Jasmin, die immer fröhliche, immer hilfsbereite – natürlich hatte es nur ein Unfall sein können, natürlich war sie eine Heldin. Keine von ihnen hätte je etwas anderes gedacht.

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