Samstag, 10. Mai 2014

Ein alter Fall



Man fürchtet, dass das Alter deprimierend sein könne, dass es die Menschen in zunehmende Lethargie verfallen, wenn ihre geistige und körperliche Fitness nachlässt und ihre Freunde und Verwandte sterben. All das war es nicht, was dafür sorgte, dass Peter Adolf Fischer nicht in Bestlaune war. Er befand schlicht, dass man sich ja auch keinerlei Mühe gab, es seiner Generation ein wenig gemütlich zu machen. Das Essen jedenfalls sah wenig appetitlich aus und schmeckte genauso – nach nichts. Da war es ja kein Wunder, wenn man stets schlecht gelaunt war. Er aß dann auch nur wenige Bissen – besonders hungrig wurde man ja hier schließlich nicht, das Altenheim bot zwar Gymnastikkurse an, doch die waren kaum als körperlich anstrengend zu bezeichnen. Da ging er schon lieber Spazieren, zumindest solange, bis irgendeine der Schwester der Ansicht war, er stünde kurz vor einem Herzinfarkt und ihn zurück ins Heim holte – nicht, dass er jemals tatsächlich vor einem Infarkt gestanden hätte, er war bloß ein bisschen außer Puste gewesen. Doch die dummen Gänse hatten ja keine Ahnung, ebenso wenig wie Schwester Carlotta, die kam um seinen Teller wieder fortzubringen, wobei sie ihn mit einem falschen, aber professionellen Lächeln fragte, ob es ihm denn nicht geschmeckt habe. „Haben Sie den Fraß mal probiert, Fräulein? Natürlich schmeckt das nicht!“, erwiderte er grummelnd und sie räumt seinen Teller kommentarlos fort. Sie mochte ihn nicht, niemand hier mochte sie und auch er mochte niemanden. Das war stets so gewesen, er war kein Mensch zum gern haben, das wusste er.
Es war anders gewesen, damals, als seine Frau noch gelebt hatte. Sie hatte es vermocht, ihn gern zu haben, mehr noch, sie hatte es sogar geschafft, ihn zu einem Menschen zu machen, den andere mochten. Seit sie vor zwei Jahren jedoch verstorben war, sah er das Leben verbitterter denn je. Er hatte es nie leicht gehabt, als Jugendlicher war er im Zweiten Weltkrieg gewesen, hatte in der Kälte Russlands für die Nazis kämpfen müssen, deswegen aber nie eine vernünftige Schulbildung erhalten und später stets Schwierigkeiten im Berufsleben gehabt. Als er Eva, seine Frau, kennengelernt hatte, wurde es besser, dann erlitt sie jedoch eine Fehlgeburt und konnte anschließend keine Kinder mehr bekommen, sodass sie kinderlos blieben. Es hatte ihn nicht so sehr gestört, solange er sie gehabt hatte, erst, seit Eva gestorben war, war ihm wirklich bewusst geworden, wie einsam und freudlos das Leben ohne sie war. Nun erhielt er nur hin und wieder Höflichkeitsbesuche von seinen beiden Neffen, doch hatte er keine enge Bindung zu ihnen. Im Grunde genommen war das Leben zusammengeschrumpft auf ein Warten auf den Tod.
Er beschloss, die Warterei zu verkürzen und zu einem erneuten Spaziergang in den Garten des Altenheims aufzubrechen, eben einer jener Spaziergänge, die ihm laut Personal sicher eines Tages einen Herzinfarkt bescheren würden. So stand er also, sich an der Tischkante festklammernd, auf und wankte hinüber zu seinem Rollator, dessen Bremsen er löste ehe er langsam darauf gestützt losging, zum Fahrstuhl um damit ins Erdgeschoss zu fahren. Doch er schaffte es nicht einmal bis dahin. Im Flur lief ihm Henriette Meyer über den Weg, ihres Zeichens bereits 87 Jahre alt und schwer dement. Deswegen vergaß sie auch immer, dass sie ihn nicht mochte und sprach ihn zwei bis drei Mal am Tag an, ehe sie sich erinnerte und ihn wieder in Ruhe ließ – solange, bis sie es erneut vergaß. Da sie vergessen hatte, dass er sie beim Frühstück angeschrien hatte, fasste sie ihn nun vertrauensvoll am Arm und sagte:„Ach, Winfried, schön dich wiederzusehen!“ Peter grummelte und unterließ es, sie darauf hinzuweisen, dass er Peter hieß – das hätte sie ja doch nur wieder vergessen. Sie nahm sein Brummeln jedenfalls als Zustimmung die Unterhaltung fortzuführen und fragte:„Hast du vielleicht meine Brosche gesehen? Die Schöne, aus Elfenbein?“ „Nein, hab ich nicht.“, erwiderte Peter und hoffte, nun in Ruhe gelassen zu werden. Wenn er doch nur schneller gehen könnte, dann hätte er den Aufzug – nein, besser, die Treppe! – schon erreicht. So dauerte es länger und die Meyer konnte problemlos mithalten. Sie befand nämlich keineswegs dass das Gespräch damit beendet sei. „Niemand hat sie gesehen! Alle habe ich gefragt und keiner weiß, wo sie ist!“, jammerte sie, „Jemand muss sie gestohlen haben, da bin ich sicher!“ Peter brummelte wieder etwas, ohne dass er selbst bemüht gewesen wäre, diesem Brummen einen semantischen Sinn zu geben. Er befand, dass die Brosche bestimmt nicht gestohlen worden war, sondern dass die Meyer sie nur verlegt haben dürfte, wie üblich. Aber sie würde sich mit seinem Brummen begnügen müssen, das konnte sie dann deuten, wie sie wollte.
Er hatte den Aufzug mittlerweile erreicht, drückte den Knopf um ihn zu rufen unnötig oft und starrte stur an der Meyer vorbei. Warum ging die denn nicht weg? „Glaubst du, du könntest mir bei der Suche nach dem Dieb helfen?“, fragte sie und machte keinerlei Anstalten, vom Erdboden zu verschwinden. Mühsam schluckte Peter die Erwiderung, dass es mit Sicherheit keinen Dieb gebe, hinunter und betrat stattdessen den in diesem Augenblick eintreffenden Fahrstuhl, wobei er so stehen blieb, dass sie ihm nicht folgen konnte und drückte energisch den Knopf, der die Türen schloss. Allein im Fahrstuhl seufzte er. Endlich Ruhe! Er hasste es hier zu sein, viel lieber wäre er bei sich zuhause wohnen geblieben, doch selbst ihm war klar, dass das nicht möglich war. Er hatte es nicht mehr geschafft, sich um den Haushalt zu kümmern oder auch nur das Essen zu kochen. Es waren seine Neffen, die ihn darauf hingewiesen hatten, dass ein Altenheim vielleicht eine angemessene Lösung sein könnte. Damals hatte er das auch gefunden. Da hatte er aber noch nicht gewusst, wie das Leben im Heim sein würde. Natürlich hatte er mit lauter alten Menschen gerechnet, aber er hatte gedacht, dass zumindest einige von ihnen noch alle Sinne beisammen hatten und nur körperlich ein wenig gebrechlich waren. Leider waren die meisten auf seiner Station jedoch geistig alles andere als auf der Höhe, sodass er niemanden hatte, man dem er hätte reden können – und so wurde er immer missmutiger. Auch der Wind, der ihn bei seinem Spaziergang – absolviert in noch schnellerem Tempo als sonst schon – entgegenschlug, änderte wenig daran.
Diesmal war es nicht Schwester Carlotta, sondern der Regen, der ihn zur Umkehr zwang, nachdem er den Garten zum dritten Mal umrundet hatte. Er begab sich in den Aufenthaltsraum, einen großzügig und hell geschnittenen Raum mit moderner Kunst an der Wand, hässliches Geschmiere, wie Peter fand. Er ließ sich in seinen angestammten Platz an den Gruppentischen nieder und war froh, weit weg von Frau Meyer zu sitzen, die grade ein paar anderen Heimbewohnern die Geschichte mit ihrem angeblich gestohlenen Schmuck erzählte. Offenbar war sie da auf dankbarere Ohren gestoßen. Zufrieden, in Ruhe gelassen zu werden, nahm er sich einen Filterkaffee und wollte sich grade zurücklehnen um an bessere Zeiten zu denken, als er erneut in seiner Ruhe gestört wurde. Es war Kai Theißen, der neuste Heimbewohner und deswegen stets auf der Suche nach neuen Bekanntschaften. Den Versuch, sich mit Peter anzufreunden, hatte er offenbar noch nicht aufgegeben. Als er sich zu ihm setzte, starrte Peter stoisch an ihm vorbei in der Hoffnung, dass er den Hinweis verstünde und sich wieder verzog.
Doch Theißen hatte ein sonniges Gemüt. Er blieb selenruhig sitzen, machte ein paar Bemerkungen zum Wetter und zum Kaffee und kam schließlich auf die Meyer und ihre verschwundene Brosche zu sprechen. Hier endlich erlaubte Peter sich eine abfällige Bemerkung über das Erinnerungsvermögen der Angesprochenen. Theißen aber stimmte nicht zu, im Gegenteil fand er, dass man ihren Behauptungen Glauben schenken solle, denn er selbst vermisse ebenfalls eine Uhr – und da er diese normalerweise immer am Handgelenk trage, könne er sie doch eigentlich kaum verlegt haben, oder? Das müsse ja nichts heißen, befand Peter, aber er kannte Theißen noch nicht lange genug um sein Erinnerungsvermögen einschätzen zu können. Er grummelte also unverbindlich etwas vor sich hin und war froh, als das Abendessen aufgetragen wurde und er sich mit etwas anderem beschäftigen konnte. Zum tausendsten Mal wünschte er, seine Frau wäre noch da. Er vermisste sie jeden Tag aufs Neue und obwohl er wusste, dass es ungerecht war, so zu denken, so war er doch wütend auf all‘ jene, mit denen das Leben gnädiger verfahren war.
Wie immer schlief er schlecht in dieser Nacht und brauchte seine tägliche Ration an Schlaftabletten, die er mithilfe von Schwester Miriam einnahm, damit er sie nicht mit den zahlreichen anderen Tabletten, die zu nehmen er genötigt war, durcheinanderbrachte. Um neun aber war er fertig gewaschen und versorgt und nicht viel später darauf taten die Schlaftabletten ihre Wirkung.
Offenbar hatten weder Meyer noch Theißen dieses Mal Gedächtnislücken sondern ausnahmsweise waren sie schlicht und ergreifend im Recht, wie Peter am nächsten Tag feststellen musste als zwei weitere Heimbewohner über verschwundene Wertgegenstände klagten. Sogleich begann das gesamte Heim darüber zu munkeln. Die Schwestern durchsuchten die Zimmer der betroffenen, doch sie konnten die entsprechenden Gegenstände nicht finden, was sie allerdings weiterhin nicht zu der Annahme führte, es sei ein Diebstahl vorgefallen, vielmehr gingen sie von der Vergesslichkeit alter Menschen aus und verwiesen darüber hinaus darauf, dass sie ohnehin keine Zeit für dererlei Lappalien hätten, nicht bei dem wenigen Personal und der schlechten Bezahlung, da seien sie froh, wenn sie überhaupt ihr Arbeitspensum schafften und könnten sich nicht auch noch mit so etwas befassen. Damit war der Fall für sie abgeschlossen und die Polizei wollten sie auch nicht benachrichtigen, immerhin hatten die sicher besseres zu tun, als nach verlegten Broschen, Ketten und Uhren zu suchen.
Dermaßen im Stich gelassen sahen die Heimbewohner sich auf sich allein gestellt und begannen also auf eigene Faust zu ermitteln, wobei diese Ermittlungen hauptsächlich darin bestanden, über einer Tasse Kaffee zu sitzen und wilde Spekulationen anzustellen. Hauptsächlich wurde natürlich darüber diskutiert, wer der Schuldige sein könnte, allerdings gab es da nur wenige Anhaltspunkte. Die fehlenden Stücke waren bei niemandem gesehen worden (ausgenommen Frau Meyer, die fest überzeugt war, gestern gesehen zu haben wie der vor vier Jahren verstorbene Rainer Fuß mit ihrer Brosche den Flut entlang schlich) und da die Bestohlenen zum Zeitpunkt des Diebstahls jeweils im Gemeinschaftsraum gewesen waren, gab es auch für den Diebstahl selbst keine Zeugen. Aus diesem Grund gingen die Mutmaßungen hauptsächlich nach Sympathien und Peter musste sich nicht an der Diskussion beteiligen um zu wissen, dass sein Name des Öfteren fallen würde.
Ob er es nun wollte oder nicht, so schweiften seine Gedanken doch immer wieder zu den Diebstählen. Im Grunde genommen kannte er die meisten hier und eigentlich traute er niemandem so recht einen Diebstahl zu. Die meisten lebten schon seit einigen Jahren hier und selbst wenn sie etwas mitgehen ließen, was hin und wieder vorkam, so doch niemals aus Bosheit sondern aus schierer Vergesslichkeit. Doch vier Diebstähle… das klang nach Absicht. Auf den Rollator gestützt spazierte er durch den Garten und dachte nach, sodass er heute langsamer als normalerweise unterwegs war. So wenig er sich mit dem Großteil der Heimbewohner auch verstand, so wenig hielt er sie für schlechte Menschen und glaubte deswegen nicht, es sei einer von ihnen gewesen. Dann waren da noch jene, die zu bettlägerig waren, um überhaupt einen solchen Diebstahl begehen zu können. Aber außerdem noch einige, die erst vor kurzem eingezogen waren, und eben diese konnte er nicht richtig einschätzen, nicht sagen, ob ihnen eine Kriminalität zuzutrauen war. Von den drei Neuen verdächtigte er jedoch nur zwei, denn da Theißen ebenfalls bestohlen worden war, war es doch eher unwahrscheinlich, dass er der Dieb war.
Also zu Barbara Keller und Holger Vogt. Da er alles andere als ein geselliger Typ war, hatte er sich nicht sonderlich mit ihnen befasst, aber immerhin den Anstand besessen, einige kurze Worte mit ihnen zu wechseln um sie nicht völlig vor den Kopf zu stoßen – es war ja nicht so, als hasse er andere Menschen aus Prinzip, er tat sich nur so schwer damit, sich auf sie einzulassen. Es brauchte einen anderen Menschen, der den weichen Kern unter der harten Schale erkannte und ihm Zeit ließ, diesen zu zeigen – also Menschen, wie seine geliebte Eva. So jemanden würde er nicht noch einmal treffen, dessen war er sich sicher. Jedenfalls hatte er sich mit den beiden kurz unterhalten. Vogt hatte dabei einen ganz umgänglichen Eindruck auf ihn gemacht, die Keller dagegen weniger, aber das machte sie ja nicht gleich zur Diebin. Eine so völlig neue Umgebung konnte einen Menschen schließlich verschüchtern. Während die anderen noch wie wild diskutierten, kam Peter zu dem Schluss, dass Diskussionen hier zu nichts führten – Handlungen mussten her.
Doch er konnte nicht ermitteln, wie im „Tatort“, er hatte keine Ahnung, wie man Fingerabdrücke nahm und selbst wenn er welche fand – was brachte denn das? Er besaß keine Vergleichsabdrücke. Und Videoüberwachung gab es nur im Eingangsbereich und am Parkplatz, aber er war sich sicher, dass es keiner der Besucher gewesen war, immerhin waren die Diebstähle an zwei aufeinanderfolgenden Tagen erfolgt und da dies hier ein Altenheim war, gab es keine Besucher, die derart oft kamen. Aber etwas anderes konnte er tun. Er konnte dem Dieb eine Falle stehlen, und jetzt war der perfekte Zeitpunkt, sie in Gang zu bringen, denn alle, die dazu in der Lage waren, sich zu bewegen – immerhin 38 von 70 Einwohnern – saßen grade hier an diesem Tisch und führten eine mehr oder weniger angeregte Diskussion (die Meyer fragte nur immer wieder wann denn endlich das Frühstück, dass vor einer Stunde wieder abgeräumt worden war, serviert werden würde). „Hört mal!“, verschaffte er sich Gehör und erhielt selbiges auch sofort – er sprach so selten, dass es einer kleinen Sensation glich, wenn er überhaupt die Stimme erhob. „Findet ihr nicht, wir sollten vorsichtiger werden? Wenn es hier einen Dieb gibt, dann sollten wir doch unseren Schmuck besser wegschließen, oder?“, fragte er. Eine Sekunde wirkten alle überrascht, aber dann schnatterten sie sofort wieder los und kamen zu dem Schluss, dass das eine sehr gute Idee sei. Auf einigen Gesichtern konnte er ob des Vorschlags sogar Sympathie entdecken – offenbar hielten ihn doch nicht alle für den Dieb – erst recht nicht nach diesem Ratschlag. Er fuhr auch gleich fort:„Ich selbst habe noch ein bisschen von dem Schmuck meiner Frau – ziemlich wertvoll, ich glaube, ich werde den Safe in meinem Zimmer zum ersten Mal benutzen, noch liegt das alles so offen rum. Ich werde gleich mal Schwester Andrea nach der Zahlenkombination für meinen Safe fragen, die habe ich schon wieder vergessen.“ Die anderen nickten zustimmend und alle zusammen machten sie sich auf den Weg in ihre Zimmer, vorbei an der etwas erstaunt blickenden Schwester Carlotta, die eigentlich grade dabei war, Kaffee einzuschenken.
Als die misstrauische Person, die Peter war, hatte er seine Wertgegenstände schon längst in dem in den Schrank integrierten Safe deponiert, auch den Zugangscode hatte er nicht vergessen. Doch nun holte er einen Teil des Schmucks hervor und legte ihn gut sichtbar auf den Tisch, schuf noch ein bisschen Unordnung, damit es so aussah, als habe er alle diese Dinge grade erst hervorgesucht und ging dann ins Bad, ohne jedoch das Licht anzuschalten. In der Dunkelheit, die Türklinke in der einen Hand und den Spazierstock in der anderen, da der Rollator nicht ins Bad passte, wartete er, ob der Dieb seinen Köder geschluckt hatte. Mit Bedacht hatte er behauptet, erst mit Schwester Andrea – als der Chefin der Einrichtung immer sehr beschäftigt – reden zu müssen, sodass er Täter in dem Glauben bleiben konnte, er habe ein wenig Zeit, rasch seinen Schmuck zu stehlen.
Und in der Tat – lange musste er nicht warten. Bald schon stürmten eilige Schritte sein Zimmer, hörte er, wie Dinge durchgesehen wurden und dann das verräterische Klimpern von Schmuck, der gegeneinander schlug, als er hochgehoben wurde. Er riss die Türe auf, taumelte, blinzelte gegen das Licht und humpelte dann, auf den Stock gestützt, so schnell seine alten Beine ihn tragen konnten in sein Zimmer um den Dieb zu überraschen.
„Schwester Carlotta!“ Er musste zugeben, selbst überrascht zu sein. Er hatte mit einem Heimbewohner gerechnet, das Personal hatte er nie verdächtigt. Schwester Carlotta blickte auf, eine Sekunde lang wirkte sie überrascht, aber dann gewann das gewohnt professionelle Lächeln überhand. „Ah, Herr Fischer!“, sagte sie, „Ich dachte, sie wollten Ihren Schmuck wegschließen, da dachte ich, ich räume ihn schon einmal fort – haben Sie die Kombination für Ihren Safe in Erfahrung bringen können?“ „Ja…“, murmelte er und gab ihn geistesabwesend ein. Er konnte nicht glauben, dass es so schief gegangen war. Natürlich, der Dieb würde die Falle gewittert haben und nun war Schwester Carlotta einfach nur hilfreich und er – er stand hier, in den Stock in der Hand und war drauf und dran gewesen, ihr mit selbigem eins überzuziehen. „Danke, Schwester Carlotta.“, sagte er schwach und sank aufs Bett.
In diesem Augenblick betrat Theißen das Zimmer, entdeckte Peter auf dem Bett. „Alles in Ordnung?“, fragte er. Peter war so erstaunt über seine offensichtliche Fehlspekulation, dass er nicht die Kraft besaß, ihn rüde fortzuschicken. Also schwieg er und Theißen fragte gut gelaunt:„Schwester Carlotta, gibt es schon Mittagessen?“ Peter war froh, dass er seine Diebestheorien nicht ansprach. „Ich denke schon.“, sagte sie wage und räumte den Schmuck mit hastigen Gesten in den Safe. Da stürmte Vogt – so gut man mit 68 Jahren eben von „stürmen“ sprechen konnte – ins Zimmer und blickte von Schwester Carlotta zu Peter und Theißen auf dem Bett und dann wieder zurück. „Hat funktioniert, oder?“, sagte er grimmig. Peter verstand nicht, aber Theißen blickte auf und fragte:„Dann habt ihr ihn gefunden?“ „Ja, alles in der Handtasche.“, lautete die Antwort und Peter bemerkte, dass er der einzige zu sein schien, der nicht verstand was vor sich ging, denn Schwester Carlotta schien zu wissen, wovon die Rede war. Sogleich erhob sie die Stimme und fragte die beiden Männer in einem wenig höflichen Tonfall, was sie in ihrer Tasche zu suchen hätte.
Auf ihre Worte lächelten die beiden Männer grimmig und Peter bemerkte, dass sich vor seiner Zimmertür immer mehr Menschen ansammelten, die verfolgten was vor sich ging. „Das beweist doch nur, dass wir Recht haben.“, sagte Theißen schmunzelnd, „Sie waren es, die den Schmuck gestohlen hat, darum waren Sie hier, nicht wahr? In Ihrer Handtasche waren die Dinge, die heute Morgen gestohlen wurden! Wir rufen jetzt die Polizei!“ Und damit zog die Schar alter Leute, Peter in ihre Mitte nehmend, ab. „Was ist denn hier los?“, fragte Peter, während Vogt im Zimmer von Schwester Andrea, die noch gar nicht verstand, was vor sich ging, die Polizei benachrichtigte. „Schwester Carlotta war die Diebin, deine Falle hat funktioniert, sie wollte deinen Schmuck grade stehlen und den anderen haben wir bei ihr gefunden.“ Peter öffnete den Mund, schloss ihn dann wieder, schüttelte den Kopf und öffnete den Mund erneut:„Ihr habt es gewusst?“ „Na hör mal! Wir sind vielleicht von gestern aber doof sind wir nicht!“, scholl es zurück. Da erst ging Peter auf, dass er Recht gehabt hatte und dass sie ihm geholfen hatten, es zu beweisen. Er war beinahe gerührt und zum ersten Mal seit seine Frau gestorben war, hatte er das Gefühl, von Menschen, die ihn mochten umgeben zu sein.
Als wenig später die Polizei eintraf und ihre Aussagen aufnahm, sagte schließlich auch Schwester Carlotta aus. Sie bekomme nicht ausreichend Gehalt und die alten Leute bräuchten den Schmuck doch eh nicht mehr. Die Polizei nahm sie mit und im Altenheim kehrte langsam wieder Ruhe ein. Peter wollte sich auf sein Zimmer zurückziehen, Ruhe haben. Doch da rief jemand seinen Namen. „Peter!“ Er wandte sich um. Da saßen Theißen und Vogt vor einem Brett „Mensch ärger dich nicht“ und schauten ihn an. „Spielst du eine Partie mit?“, fragten sie. Peter überlegte nicht lange. Er lächelte, setzte sich zu ihnen und nahm die Würfel zur Hand.

Sonntag, 12. Januar 2014

Ein Fehler


Irgendwo im Münsterland, 5. April 2011, 23:30 Uhr
Die Frau, die bald sterben sollte, ging mit schnellen Schritten die dunkle Straße entlang. Sie sah den Mann, der ihr folgte, nicht. Das Geräusch ihrer Pfennigabsätze, welche in regelmäßigen Abständen ein lautes Klacken verursachten, war das einzige, was die nächtliche Stille durchbrach. Sie ging schnell, erst die Hauptstraße entlang, dann bog sie in eine Seitenstraße ab und war schon bald an einer schmalen Straße angelangt. Als sie auf eines der Häuser zustrebte, beschleunigte der Mann seine Schritte. Nun erste drehte sie sich um, sah den Mann hinter sich und ging dann aber weiter. Unbewusst beschleunigte sie ihre Schritte, schlang den Mantel, den sie trug, enger um sich und als sie hörte, wie der Mann hinter ihr immer näher und näher kam drehte sie sich erneut um. Da lief der Mann los, auf sie zu und sie stieß einen kurzen Schrei aus und rennte ebenfalls. Ihre Absätze klackerten nun unregelmäßig über den Asphalt, doch sie stürzte nicht. Grade, als sie die Einfahrt zu einem Haus, ungefähr in der Mitte der Straße, erreicht hatte, holte der Mann sie ein, streckte die Hand nach ihr aus und bekam ihren rechten Ellbogen zu fassen. Sie schrie noch einmal, vor Schreck, aus Angst, jedoch nur kurz. Dann drehte sie sich um, sah ihn an. Er hatte erwartet, dass sie etwas sagen würde, doch das tat sie nicht, sie starrte ihn nur an, ihre Lippen zitterten und ihre Augen huschten hin und her, aber kein Zeichen, dass sie ihn erkannt hätte war darin. Doch das sah er nicht. Dafür sah sie den Golfschläger, den er in der behandschuhten linken Hand hielt. Ihr Atem ging laut als sie versuchte, sich von ihm loszureißen, eine Absicht, die nicht von der Erfolg gekrönt sein sollte und noch bevor sie einen zweiten Versuch starten konnte, schlug er ihr den Golfschläger mit aller Kraft gegen die rechte Schläfe. Sie stöhnte schmerzerfüllt auf und wankte, ging aber nicht zu Boden. Da ließ er sie los, nahm den Golfschläger in die rechte Hand und schlug erneut zu. Nun endlich stürzte sie mit einem dumpfen Geräusch zu Boden und rührte sich nicht. Er stieß sie mit der Fußspitze an, aber erhielt keine Reaktion. Dennoch wollte er sicher sein, er war nicht so weit gegangen, um dann zu versagen. Mit beiden Händen hob er den Golfschläger über den Kopf und schlug noch einmal zu und dann noch einmal und noch einmal, bis Blut und Haare an dem Golfschläger klebten, man das Gesicht der Toten aber nicht mehr erkennen konnte. Schwer atmend richtete er sich auf, warf den Golfschläger achtlos neben sie und verließ dann die Straße, die nur durch das Licht zweier flackernder Straßenlaternen erhellt wurde. Man musste sehr genau hinsehen, um die Leiche überhaupt zu bemerken.
Etwa eine halbe Stunde später und einige Straßen weiter schloss Bernard Becker die Tür zu seinem Einfamilienhaus mit großem Garten auf und trat in den dunklen Flur. Seit einem Jahr war der Flur immer dunkel, wenn er nach Hause kam, denn vor einem Jahr hatte seine Frau ihn verlassen und auch ihre gemeinsame Tochter von sieben Jahren mitgenommen. Die Scheidung war noch nicht durch, doch Bernard hatte aufgehört um irgendetwas zu kämpfen: Seine Ehe, seine Tochter, sein Geld… Geld hatte er ja ohnehin keines mehr, deswegen hatte seine Frau ihn verlassen, weil sie ihn für einen Versager hielt, der seine Familie nicht ernähren konnte – ein Argument, mit dem sie nicht ganz unrecht hatte, seit er seinen Job als Bäcker ein Jahr zuvor verloren hatte, da der neu eröffnete Starbucks von gegenüber die kleine Konditorei in den Ruin getrieben hatte. Seitdem war es seine Frau gewesen, die durch ihren halbtags-Job bei Schlecker für den Unterhalt in der Familie gesorgt hatte. Nun jedenfalls waren sie fort und Benard hatte immer noch keinen neuen Job gefunden, er konnte den Kredit, den er damals nach der Hochzeit für das Haus aufgenommen hatte, nicht bezahlen, vermutlich würde er nicht mehr lange hier wohnen können, doch er hatte nicht vor, klein beizugeben, das Haus war alles, was ihm geblieben war. Dabei war er sich bewusst, dass bisher ja auch schon alles schief gelaufen war.
Seufzend zog er sich die Schuhe aus, ließ sie im Flur stehen und ging auf Socken ins Wohnzimmer, wo er das Licht einschaltete und hinüber zum Kamin ging. Er hatte dort bereits eine jener gelben Plastiktüten für den Müll bereitgelegt, bevor er heute Abend das Haus verlassen hatte und in diese Tüte stopfte er nun seine schwarzen, blutbefleckten Handschuhe sowie die Jacke und die Hose, auf der ebenfalls Blutspritzer waren. Er hatte sich genau überlegt, wie er die Schlampe töten wollte und nun, wo sie tot war, musste er nur noch alle Beweise verschwinden lassen – das hatte er bei den Kriminalsendungen im Fernsehen gesehen. Nachdem alle blutigen Kleidungsstücke in dem gelben Sack verschwunden waren, stand er eine Weile unschlüssig im Wohnzimmer, bevor er sich dazu entschloss, heiß zu duschen.
Erst, als er das Gefühl des heißen Wassers, das seinen nackten Körper hinunterfloss, genoss, wurde ihm bewusst, dass er tatsächlich einen Menschen getötet hatte. Bisher war er so damit beschäftigt gewesen, Pläne darüber zu schmieden, die Schlampe zu töten und dann erleichtert zu sein, dass es vorbei war, dass sie ihm nicht mehr gefährlich werden konnte, dass er gar nicht darüber nachgedacht hatte, dass er ein Leben ausgelöscht hatte. Er stellte das Wasser aus und während er sich die Haare trocken rubbelte, versuchte er, an sie als Menschen zu denken und nicht nur, wie sonst, an sie als die Schlampe, die sein Leben zu zerstören drohte. Sie hatte schulterlanges, blondes Haar gehabt, blaue Augen und einen Sohn, der ungefähr so alt sein dürfte wie seine Tochter. Vielleicht gingen die beiden sogar gemeinsam zur Schule? Er wusste es nicht, Elternabende waren immer etwas für seine Frau gewesen. Und wenn er sich auf den Kopf stellte, er könnte nicht einmal sagen, wie die Freundinnen seiner Tochter hießen. Nachdem er sich fertig abgetrocknet hatte, begab er sich in die Küche und setzte einen Kaffee auf – an Schlaf war in dieser Nacht wohl ohnehin nicht zu denken. So saß er da, am Küchentisch, eine Tasse starken Kaffes vor sich, und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Versuchte, so etwas wie Würde zu bewahren. Scheiterte. Er hatte sehr genau über das, was er getan hatte, nachdenken wollen, damit abschließen wollen um dann nie wieder daran denken zu müssen. Aber seine Gedanken wollten nie lange bei der Schlampe bleiben, immer wieder wanderten sie zu anderen Dingen, sodass er es gegen vier Uhr nachts schließlich aufgab, den Fernseher einschaltete und durch die Programme zappte, bis er irgendwann beim Porno-Kanal hängen blieb.
Es war schon halb zehn, als er am nächsten Morgen aufschreckte. Er war auf der Couch eingeschlafen, der Fernseher lief noch, doch er schenkte dem in eindeutiger Weise ineinander verschlungenen Paar, keine Beachtung und schaltete die Flimmerkiste stattdessen aus. Sodann tapste er verschlafen zurück in die Küche um sich mehr Kaffee zu machen. Während er auf dem Küchenstuhl sitzend beobachtete, wie der Kaffee durch den Filter langsam in die Kanne darunter floss, überlegte er, ob die Leiche wohl schon gefunden worden war. Soweit er wusste, war die Schlampe verheiratet gewesen, es würde sich also vermutlich jemand um sie sorgen. Der Gedanke, dass es wesentlich länger brauchen würde, ehe ihn jemand vermisste – und er war sicher kein so schlechter Mensch wie sie, oh nein, auch wenn er sie getötet hatte, sie hatte immerhin sein Leben zerstören wollen! – ließ ihn die Kaffeetasse härter auf den Tisch aufsetzen als geplant und ein Teil der heißen Flüssigkeit schwappte über und verbrühte ihm die Hand. „Verdammte Scheiße!“, fluchte er laut und eilte zum Wasserhahn, um kaltes Wasser über die verbrannte Stelle laufen zu lassen. Es ging schnell wieder besser und als er den Hahn ausdrehte, hatte er schon keine Lust mehr auf Kaffee, also ließ er die Tasse stehen und ging zurück ins Wohnzimmer – er musste ja noch die Beweismittel verschwinden lassen. Diese befanden sich glücklicherweise schon in einem Plastikbeutel, sodass sie nur noch entfernt werden mussten. Er zog sich einen Regenmantel über seinen Jogginganzug, dann noch die Gummistiefel dazu und ging mit dem Beutel in den Garten. Neben dem Geräteschuppen legte er den Beutel ab, fummelte umständlich den Schlüssel hervor und schloss auf. Drinnen herrschte ein Chaos beträchtlichen Ausmaßes, doch das war nichts Neues. Das Licht war schlecht, denn die Fenster waren lange nicht geputzt worden, doch er wusste ja, wonach er suchte, sodass die Schaufel rasch gefunden war.
Als er nach draußen trat, sah er sich als erstes um, als fürchte er, man könne ihn beobachten. Dabei war es ein normaler Mittwochmorgen, seine Nachbarn waren alle bei der Arbeit und der Bereich zwischen dem Geräteschuppen und den Kirschlorbeersträuchern war gegen Blicke gut abgeschirmt. Doch wenn man ihn sähe…! Er sah sich sicherheitshalber noch ein paar Mal um, dann begann er zu graben. Der erste halbe Meter ging recht gut, denn in den letzten Tagen hatte es oft geregnet, doch dann wurde es schwerer. Es war erst Anfang April und der Boden war noch gefroren. So war es ein hartes Stück Arbeit und trotz der Kälte an diesem nass-kalten Tag war ihm ziemlich warm. Schließlich gab er sich zufrieden, das Loch war nicht so tief, wie er es beabsichtigt hatte, aber es schien unmöglich, noch tiefer zu graben, bei diesen Witterungsverhältnissen. Er nahm den Sack mit den blutbeschmierten Kleidungsstücken und warf ihn in die Tiefe, dann schaufelte er das Loch wieder zu, stellte die Schaufel zurück und ging zurück ins Haus, sich die Erde von den Fingern zu waschen.
Es war schon ein Uhr und ihm fiel ein, dass er noch gar nichts gegessen hatte. Ein Teil von ihm hielt sich selbst für pietätlos. Aber er musste ja was essen und überhaupt… es war ja schon einmal jemand gestorben. Doch nicht durch seine Schuld, er hatte doch nicht gewollt, dass er starb und er hatte auch nicht gewollt, dass sie starb aber die Schlampe hatte es herausgefordert und er hatte sich nur gewehrt. Seine Schuld war das nicht gewesen! Er schüttelte heftig den Kopf um den Gedanken loszuwerden und öffnete den Kühlschrank, in dem einige Fertigmischungen und viel Bier standen. Er konnte selbst nicht kochen, das hatte seine Frau immer getan und nun, da sie weg war, aß er entweder auswärts oder wärmte sich Fertiggerichte in der Mikrowelle auf. Blind wählte er etwas aus, riss die Verpackung herunter und warf einen Blick auf den undefinierbar matschigen Inhalt, der ihn auf bizarre Art und Weise an das zerschlagene Gesicht der Schlampe erinnerte, nachdem er mit ihr fertig gewesen war. Er packte das Essen in raschen Bewegungen in die Mikrowelle, schaltete sie ein und zog sich den Mantel und die Schuhe wieder aus, wobei er einige unästhetische Verrenkungen anstellen musste, doch als er schließlich fertig war, piepte die Mikrowelle und er ging hinüber, sein Essen herauszunehmen um sich dann damit vor den Fernseher zu setzen. Er suchte einen Nachrichtensender, denn er wollte sehen, ob man die Leiche gefunden hatte. Doch zunächst ging es um internationale Konflikte und notleidende Banken. Dann aber hatte er das Gefühl, ihm bliebe für eine Sekunde das Herz stehen. Da kam sie doch tatsächlich, es war eben jene Nachbarschaft, jene Straße und dort, unter einem Tuch verborgen die Leiche. Während die Kamera über all‘ das glitt, erklang aus dem Hintergrund die neutrale Stimme der Nachrichtensprecherin, welche die Tat ein „schreckliches Verbrechen“ nannte – als hätte sie Ahnung, sie wusste nicht, dass die Schlampe es verdient hatte – und berichtete, dass sie am Morgen von ihrem Sohn gefunden worden war, als dieser hatte zur Schule gehen wollen. Neben der „grausam entstellten Leiche“ – noch so eine Übertreibung – habe man einen Golfschläger gefunden. Vom Mörder fehle bisher jede Spur, sachdienliche Hinweise nehme jede Polizeidienststelle entgegen. Er atmete erleichtert aus während die Nachrichtensprecherin zur nächsten Meldung überging. Bernard musste ein paar Mal tief durchatmen, so erleichtert war er. Sie wussten von nichts und sie würden nichts finden, er war sehr vorsichtig gewesen.
Während er sich langsam den ersten Löffel in den Mund steckte, dachte er darüber nach. Den Golfschläger hatte er vor einigen Monaten in einem großen Warenhaus erstanden, da war es noch Winter gewesen und niemand hatte sich gewundert, dass er zu dieser Jahreszeit so dick angezogen gewesen war und auch seine Handschuhe nicht ausgezogen hatte. Seitdem hatte er ihn in der Plastiktüte, in der ihm die Verkäuferin den Schläger überreicht hatte, aufbewahrt und erst gestern wieder herausgenommen und auch da hatte er Handschuhe getragen. Und eine Verbindung zu ihm könnten sie schon gar nicht erstellen, niemand wusste, dass er das damals gewesen war, in der Bank.
Er seufzte und fühlte sich gleich besser. Keine Spuren, keine Beweise… er war aus dem Schneider! Er schaltete den Fernseher aus und schloss für einige Sekunden die Augen. Dann erst wurde ihm bewusst, wie lange er nicht mehr richtig geschlafen hatte. Er ging die Treppe hinauf ins Schlafzimmer, zog sich den Jogginganzug aus und warf sich nur in der Boxershorts mitten auf das Doppelbett. Es dauerte tatsächlich nicht lange, bis er eingeschlafen war und er war erstaunt, festzustellen, dass keine Leichen seinen Schlaf heimsuchten. Dafür weckte ihn gegen Abend ein lautes Hämmern an der Tür. Er war noch nicht richtig wach und hatte noch nicht identifiziert, wo das Geräusch herkam, als er plötzlich senkrecht im Bett saß denn er hörte plötzlich das Getrappel mehrerer Menschen unten in seinem Flur. Aus dem Bett schaffte er es aber fürs erste nicht, da stürmten – im wahrsten Sinne des Wortes stürmten – einige Männer auch schon sein Schlafzimmer, umringten sein Bett und zwei bedrohten ihn mit einer Pistole.
„Was?“, entfuhr es ihm.
Die beiden anderen Männer, welche keine Pistolen bei sich trugen, dafür auch nicht in Polizeiuniformen sondern schwarze Anzüge gekleidet waren, standen ihm direkt gegenüber, die beiden anderen rechts und links von ihm. Er saß in seiner Boxershorts im Bett und starrte verblüfft von einem zum anderen. „Herr Becker?“, fragte einer der beiden Männer im Anzug, der rechte. Er war groß, nicht dick aber doch stattlich und hatte eine große, fleischige Nase und dazu buschige Augenbrauen unter denen ihn braune Augen aufmerksam musterten. Bernard nickte, immer noch verdutzt. „In der vergangenen Nacht wurde eine Frau getötet und es gibt Zeugen, die sie mit dieser Tat in Verbindung bringen.“, erklärte der Polizist. „Das ist doch lächerlich!“, wandte Bernard sofort ein. Das Lächeln des Polizisten wirkte nicht ganz aufrichtig, als er sagte:„Bestimmt. Aber um jeden Zweifel auszuräumen darf ich Sie bitten, uns auf Polizeipräsidium zu begleiten?“ Es war keine Frage aber Bernard hätte trotzdem gerne abgelehnt. Doch das hätte ihn nur noch schuldiger aussehen lassen. So sagte er stattdessen: „Darf ich mir denn wenigstens noch etwas anziehen?“ „Natürlich.“ Aber keiner machte Anstalten, den Raum zu verlassen, sodass er sich grummelnd erhob, den Schrank öffnete und wahllos nach einer Jeans und einem Hemd griff, sie sich überzog. „Okay.“, sagte er dann und die Polizisten eskortierten ihn die Treppe herunter, wo sie kurz innehielten damit er die Schuhe anziehen konnte, dann ging es weiter zu den beiden Autos, auf die die Polizisten sich aufteilten und ihn auf den Rücksitz des vordersten Autos bugsierten.
Die ganze Fahrt über drehten sich seine Gedanken nur darum, wie die Polizei nur auf ihn kommen konnte. Er war doch so vorsichtig gewesen. Egal, wie er es drehte und wendete, er konnte sich einfach nicht erklären, was die Polizei auf seine Spur gebracht hatte. Der Golfschläger konnte es nicht gewesen sein… Und der Zwischenfall in der Bank? Nein, das war doch unmöglich… zugegebenermaßen war es nicht grade eine seiner besseren Ideen gewesen die Bank auszurauben, aber er hatte sich einfach nicht zu helfen gewusst, nachdem seine Frau ihn verlassen hatte und er gedacht hatte, wenn er nur wieder Geld hätte nähme sie ihn schon zurück.
Doch der Banküberfall war schief gelaufen, auf jede Art und Weise, auf die er nur schief laufen konnte. Er hatte sich einen Strumpf übers Gesicht gezogen, war in die Bank gelaufen und hatte mit einer Pistole, welche er bei einem Schützenfest entwendet hatte, die Frau am Schalter bedroht. Er hatte sie angeschrien, ihr alles Geld zu geben und sie hatte gehorcht. Und dann hatten Menschen hinter ihm geschrien und ein alter Mann war zusammengebrochen, einfach so. Später hatte er erfahren, dass er einen Herzinfarkt gehabt hatte, ausgelöst durch den Schock, und dass er gestorben war. Er hatte alles Geld, was die Frau bis dahin zusammengehabt hatte, gepackt und war geflohen. Doch was hätte er tun sollen, er brauchte das Geld und der Tod des Mannes war schließlich nicht seine Schuld, sicher hatte er schon vorher ein schwaches Herz oder ähnliches gehabt! Aber wie hatte man ihn mit dieser Geschichte in Verbindung bringen sollen? Den einzigen Beweis, den es gab, hatte er vernichtet, wortwörtlich vernichtet.
Sie waren angekommen, die Polizisten führten ihn vom Auto in ein Verhörzimmer, dort saß er jedoch erst einmal alleine und überlegt immer noch, wie um alles in der Welt er hatte gefunden werden können. Ein paar Tage nach dem Überfall war er im Supermarkt einkaufen gewesen und während er bei Aldi an der Kasse stand, ging ihm auf, dass die Frau, hinter ihm, die Frau vom Schalter in der Bank war. Sein Puls ging in die Höhe doch er versuchte verzweifelt, ruhig zu bleiben und sich nichts anmerken zu lassen, denn sie schien ihn nicht erkannt zu haben und er wollte, dass das so blieb. Dann war es an ihm zu bezahlen und als er der Frau zwei zwanzig Euroscheine überreichte, diese sie turnusmäßig auf Falschgeld überprüfte, hätte er nicht entsetzter sein können, als sie ihm sagte es sei Falschgeld. „Was? Aber sie sind doch direkt von der Bank!“, protestierte er und in diesem Augenblick ging ihm auf, dass er das nicht hätte sagen dürfen, denn die Frau, die ihm diese Geldscheine überreicht hatte, stand gleich hinter ihm und sie musste es wissen.
Auf dem Aldi-Parkplatz hatte sie ihn abgepasst. „Ich weiß, wer Sie sind! Und ich weiß, was Sie getan haben!“, hatte sie gezischt und er hatte keine Möglichkeit oder Notwendigkeit gesehen, es zu leugnen. „Was wollen Sie?“, hatte er stattdessen gesagt. „Ich will, dass Sie sich stellen, für das, was Sie getan haben! Sie haben versucht die Bank auszurauben und Sie haben jemanden getötet!“ „Sie haben keine Beweise.“, hatte er versucht dagegen zu halten, obwohl er bereits wusste, dass es hoffnungslos war. Ihre schonungslosen Worte brachten ihn dazu, sich wie einen Verbrecher zu fühlen und das war er nicht, er war nur ein Opfer der Gesellschaft. „Das Falschgeld.“, hatte sie geflötet. „Was soll das denn beweisen?“, hatte er wütend geantwortet, aber sie hatte nur gelacht. Da war ihm klar geworden, dass er die Schlampe töten musste, wenn er nicht wollte, dass sie sein Leben zerstörte. Immerhin hatte sie, obwohl sie einen sicheren Job in der Bank hatte, Geldwäsche betrieben, wie sonst wäre sie an das Falschgeld gekommen? Sie war ein schlechter Mensch und er hatte bloß Pech, das war alles. Aber wer hätte davon wissen sollen?
Die Antwort auf diese Frage sollte ebenso überraschend wie schockierend sein. Die Tür des Vernehmungsraumes öffnete sich und hereinkam – die Schlampe. Bernards Gesicht wurde abwechselnd heiß und kalt, sein Puls setzte erst ganz aus nur um dann mit dreifacher Geschwindigkeit seinen Rhythmus wieder aufzunehmen. „Du?!“, ächzte er. Sie hatte nur dagestanden und nichts gesagt, leise vor sich hin gelächelt und ihn abwartend angesehen. „Aber das ist nicht möglich!“, keuchte er, „Du bist tot!“ Er war aufgestanden und rückwärts von ihr weggegangen und hatte dabei wie wild mit dem rechten Zeigefinger in der Luft herumgefuchtelt. „Tot! Ja, du bist tot, ich habe dich umgebracht.“ Die ganze Spannung löste sich von ihr, als sie diese Worte vernahm. „Nein.“, sagte sie dann, „Nicht mich hast du umgebracht, sondern meine Zwillingsschwester.“
Er hielt in seinen Bewegungen inne, starrte sie an als glaube er immer noch, einen Geist vor sich zu haben. „Nein.“, hauchte er dann. „Ich habe gesagt, wenn du nicht zur Polizei gehst tue ich es. Und ich bereue, es so spät getan zu haben.“, sagte sie leise, drehte sich dann um und verließ den Raum. Das Geräusch ihrer Pfennigabsätze, welche in regelmäßigen Abständen ein lautes Klacken verursachten, war das einzige, das die atemlose Stille durchbrach. Erst, als die Tür hinter ihr zugefallen war, fasste er sich wieder. Diese Schlampe! Sie hatte ihn hereingelegt! Sie hatte ihm eine Falle gestellt und nun war sie Schuld, dass sein Leben ruiniert war. „Du Schlampe!“, brüllte er ihr hinterher, „Du verdammte Schlampe!“
Einige Polizisten mussten hereinkommen, ihn auf den Stuhl drücken und ihm Handschellen anlegen, bevor die Vernehmung beginnen konnte.

Sonntag, 5. Januar 2014

19:16 Uhr nach Trier



Ein Dorf, 23. Juli 2013, 19:42 Uhr
Sophie-Barbara Schwarz, zu ihrem eigenen Leidwesen von allen stets Bärbel genannt, traf fast gleichzeitig mit dem Notarzt am Unfallort ein. Als sie die Sirenen gehört hatte, hatte sie zunächst angenommen, es habe bei einem dieser unsäglichen Fußballturniere einen Unfall gegeben und es hatte sie mit heimlicher Häme erfüllt, denn diese Fußballer parkten ihr ja doch nur die Einfahrt zu, sodass sie nicht mit dem Auto aus der Garage kam – nicht, dass sie das wollte, aber nur mal angenommen sie würde wollen…
Die Fußballer jedenfalls waren es nicht gewesen, wie sie schnell erfahren hatte, als ihre beste Freundin Monika, eine Klatschbase sondergleichen die kein Gefühl für Mode hatte, dafür aber sämtliche Königshäuser Europas ebenso gut kannte wie ihre eigenen Nachbarn, sie angerufen hatte um ihr zu sagen, dass es einen Unfall am Bahnübergang gegeben habe. Jemand war offenbar vom 19:16 Uhr Zug nach Trier erfasst worden. Leider hatte Monika nicht erkennen können, wer es war (vermutlich war sie mal wieder zu eitel gewesen ihre Brille aufzusetzen. Andererseits, dachte Bärbel, wenn sie so ein Pfannkuchengesicht hätte…), dabei wohnte sie doch am Bahnsteig. Jedenfalls hatte Bärbel sich auf ihr Fahrrad geschwungen (verdammte Fußballer, mit dem Auto wäre sie schneller gewesen!) und kam nach fünf Minuten bei Monika an, die sie schon vor der Haustür erwartet hatte, sodass sie sich gleich zum Unfallort aufmachen konnten.
Sie waren nicht die ersten, bereits andere waren von den Sirenen angelockt worden. Doch niemand kam nah genug heran um etwas sehen zu können, da neben zwei Rettungswagen auch einige Polizeiautos gekommen waren und die Polizisten nicht nur die Rettungswagen vor Blicken schützten sondern auch den gesamten Bahnübergang abgeschirmt hatten. Der Zug, ein roter Talent, dessen hinterster Wagon mit Graffiti beschmiert war, stand ein Stück weiter, die Passagiere wurden grade hinaus gelotst und zur anderen Seite des Bahnübergangs geleitet, wo Bärbel ihnen keine Fragen stellen konnte. Musste sie sich also an jemanden anders wenden. Sie sah sich um und entdeckte Annegret Schröder, mit der sie zusammen die örtliche Hauptschule besucht hatte, 20 Jahre war das jetzt her. Annegret wohnte nah am Bahnübergang und hatte eine große Traube Menschen um sich versammelt – sie musste etwas gesehen haben! Bärbel konnte Annegret nicht ausstehen. Mit einem breiten Lächeln ging sie auf sie zu und rief:„Anne, du hier! Wie schön dich zu sehen!“ Auch Annegret mochte Bärbel nicht und so antwortete sie:„Bärbel, komm, lass dich drücken!“ Die beiden umarmten sich kurz und Bärbel fand, dass Annegret ein grässliches Parfum benutzte. Kaum, dass sie sich voneinander gelöst hatten, sprudelte Annegret auch schon los:„Hast du es schon mitbekommen? Sabrinas Jüngste ist vom Zug überfahren worden. Ich glaube, sie ist tot!“ Bärbel war ganz außer sich. Tot! Ein handfester Skandal im Dorf, endlich ein Thema, über dass es sich zu tratschen lohnte, nicht so etwas wie die leidige Frage, welchen Namen Kates Sohn bekommen würde. Laut sagte sie:„Tot? Nein wie furchtbar! Das Mädchen war doch erst sechszehn! Die arme Sabrina!“ Dabei hatte sie schon immer gefunden, dass Sabrina eine schlechte Mutter abgab. Viel zu liberal. Sicher hatte der Tod ihrer Tochter – wie hieß sie doch gleich? Chantal- nein! Jasmin! – etwas damit zu tun.
„Wie konnte denn das passieren?“, fragte Monika und Bärbel fügte flüsternd hinzu:„War sie vielleicht betrunken?“ Bei der heutigen Jugend wusste man ja nie! Die betranken sich, rauchten und nahmen Drogen. Und dann taten sie im Suff dumme Dinge! Wenn sie ihren Sohn mit einem Bier erwischen würde, nein, da würde sie aber andere Saiten aufziehen! „Ich weiß nicht.“, sagte nun Annegret, „Aber sie war nicht allein!“ „Und?“, fragten sogleich die anderen Frauen der Gruppe, „Sag schon, wer war bei ihr?“ Annegret wartete eine kleine Weile um die Spannung ihrer Zuhörerinnen zu steigern, dann sagte sie triumphierend:„Ein Junge. Vielleicht 18. Komisch sah der aus, mit Sonnenbrille und so.“ Ein paar „Ah!“s und „Oh!“s kamen von den Frauen und eine von ihnen, Elke aus der Hauptstraße, fragte mit unverhohlener Erregung:„Mit Sonnenbrille? Um die Uhrzeit? So, wie ein Verbrecher?“ „Ich weiß nicht.“, murmelte Annegret, offenbar enttäuscht, dass ihr der Gedanke noch nicht selbst gekommen war, „Er hielt sie so fest…“ „Ein Zuhälter! Habt ihr mal die kurzen Röcke gesehen, in denen Jasmin immer herläuft- herumlief, wollte ich sagen?“, sagte Bärbel gehässig. Tatsächlich beneidete sie Jasmin um ihre schlanken Beine und ihre schmale Taille, aber dass gestand sie sich nicht einmal sich selbst gegenüber ein. Nach der Geburt ihres Sohnes hatte sie ein paar Pfunde zugelegt und würde in den Sommerkleidchen, die Jasmin getragen hatte, lächerlich aussehen. „Du hast Recht!“, pflichtete Monika ihr bei, „Wo sonst soll sie denn das Geld hergehabt haben für diese Schuhe, die Kleider und den Schmuck?“ „Und dann die Schminke!“, ergänzte Elke und alle nickten. So war das also! In Bärbels Kopf begann alles Sinn zu machen und so sagte sie:„Sicher war sie eine Hure, aber sie konnte ihren Zuhälter nicht bezahlen und da hat der sie eben umgebracht.“ Alle Frauen nickten, nur das Mauerblümchen Eleonora merkte an, dass man nicht schlecht über Tote sprechen solle. „Wenn‘s doch wahr ist!“, polterte Annegret und tat den Einwand Eleonoras damit ab.
„Da kommt Beathe!“, sagte Elke und in der Tat keuchte die Genannte grade den Hügel, der zum Bahnhof führte, hinauf. Dass Beathe ein Freund von Lebensmitteln war, war nicht zu leugnen, auch wenn sie ihre gewaltige Körperfülle unter voluminösen Stoffen zu verbergen suchte. Bärbel mochte Beathe, weil sie sich neben ihr stets schlanker und attraktiver fühlte. Mit puterrotem Gesicht und vor sich her wallendem Busen erreichte Beathe schließlich die Gruppe. „Ich bin so schnell gekommen wie ich konnte!“, japste sie und zeigte auf ihr Haus auf der anderen Seite des Bahnübergangs. Durch die Sperrung der Polizei hatte sie einen ziemlichen Umweg machen müssen. „Was hast du gesehen?“, fragte sie die Frauen sogleich doch Beathe war noch zu sehr außer Atem und fächelte sich mit der Hand Luft zu.
Derweil ließ Bärbel den Blick schweifen doch außer dem blauen Licht der Rettungsfahrzeuge, dass die Szenerie in ein unheimliches Licht tauchte, war nicht viel zu sehen. Hinter den Trennwänden, die die Polizei aufgestellt hatte, sah man Schatten auf und ab gehen, doch nichts Konkretes. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Beathe zu, die sich mittlerweile insoweit erholt hatte, dass sie sprechen konnte. Gesehen hatte sie jedoch nichts – dafür aber gehört. „Ich habe mit den Leuten aus dem Zug geredet. Sie sagen, sie sei auf die Gleise gelaufen, als der Zug kam.“, erzählte sie aufgeregt, „Ich glaube, sie hat Selbstmord begangen!“ „Und der Kerl, der bei ihr war?“, fragte Doris, die bisher geschwiegen hatte und deren sonst so perfekt sitzende Haare zur Hälfte auf Lockenwicklern aufgedreht waren. „Vielleicht ist sie ja vor ihm geflüchtet, wer weiß schon, was so ein Zuhälter alles anstellt? Da wollte sie lieber sterben als ihm in die Hände zu fallen.“, mutmaßte Annegret. Bärbel fand, dass diese Geschichte nicht ganz schlüssig klang, hatte Annegret selbst doch eben noch erzählt, der Junge habe Jasmin festgehalten. Aber sie sagte nichts, weil sie fand, dass diese Version der Geschichte so herrlich skandalös klang. „Zuhälter?“, echote Beathe, „Die Kleine war ’ne Nutte?“ Die Frauen nickten wichtigtuerisch und Beathe sagte selbstgefällig:„Hab ich’s mir doch immer gedacht!“ während sie an ihrem Oberteil herum nestelte. Eine Weile schwiegen die Frauen und sahen zur Unfallstelle, doch dort hatte sich immer noch nichts getan.
Bewegung kam erst in die Gruppe, als Bärbel Julia entdeckte, eine Freundin Sabrinas, die mit Sicherheit mehr wusste. Sie winkte sie herüber und mit langsamen Schritten gesellte Julia sich zu der Gruppe. Sie wirkte sehr bedrückt und Bärbel musste sich große Mühe geben, nicht zu neugierig zu klingen, als sie sich bei Julia erkundigte, ob diese mehr zu den Ereignissen wisse. Sie wusste mehr. „Es ist so furchtbar.“, sagte sie mit leiser Stimme und umklammerte das benutzte Taschentuch in ihrer Hand. „Die arme Jasmin, die arme Sabrina!“ Nicken von allen Seiten, mühsam unterdrückte Neugier. „Dann ist es wahr?“, fragte Elke. Julia nickte stockend:„Jasmin ist tot. Der Notarzt konnte nichts mehr für sie tun. Aber Michael ist wohlauf.“ „Wer ist Michael?“, kam sogleich die Frage zurück. Ein wenig erstaunt über ihre Unwissenheit erklärte Julia:„Na, Jasmins Freund.“ Noch bevor die anderen ihr Erstaunen darüber zum Ausdruck bringen konnten, trat Sabrina hinter den Trennwänden hervor, ihr Blick war suchend. Sie hielt die Arme vor dem Körper verschränkt, ihre Augen waren rot, ihre Lippen bebten und sie zitterte am ganzen Körper. „Entschuldigt mich.“, wisperte Julia, bückte sich unter der Polizei-Absperrung hindurch und eilte zu Sabrina.
„Ich wusste ja gar nicht, dass Jasmin einen Freund hatte.“, sagte Doris. „Vielleicht war es dann doch nur ein tragischer Unfall.“, vermutete Elke. Die Richtung, die das Gespräch nahm, gefiel Bärbel gar nicht, als sie ihren schönen Skandal schwinden sah. „Aber findet ihr nicht, dass sie mit sechzehn viel zu jung für einen Freund war?“, sagte sie deshalb in dem Versuch, dem ganzen doch noch etwas Skandalöses abzugewinnen. Dass sie selbst bereits im Alter von vierzehn Jahren im örtlichen Wäldchen ihre Unschuld an Wilfried Meyer verloren hatte, übersah sie dabei bereitwillig. Doch sechszehn, fanden die anderen, sei kein so skandalöses Alter.
Schließlich begann die Polizei, die Absperrungen abzubauen, einer der Krankenwagen fuhr davon, der andere blieb stehen. Er war offen und ein Junge von achtzehn Jahren saß darin. Er saß kerzengrade und bewegte sich nicht. Aber unter der Sonnenbrille, deren Gläser so schwarz waren, dass man seine Augen nicht sehen konnte, strömten Tränen hervor, doch machte er sich nicht die Mühe, sie fortzuwischen sodass seine Wangen nass glänzten. Sabrina trat zu ihm herüber, drückte seine Hand und sprach mit ihm, Worte, die Bärbel durch die Distanz nicht hören konnte. Michael, wie er nun offensichtlich hieß, antwortete, doch er bewegte sich nicht, wandte ihr nicht einmal den Kopf zu. Wie er so dasaß, erinnerte er Bärbel an jemanden…
Plötzlich tauchte Julia wieder bei ihnen auf. „Das ist also Michael?“, fragte Elke. „Ja.“, bestätigte Julia, „Er ist blind, schon von Geburt an.“ Jetzt, da sie es wusste, fiel es Bärbel wie Schuppen von den Augen. Darum die Sonnenbrille, darum das etwas sonderbare Verhalten! „Ihr wisst ja,“, fuhr Julia fort, „dass der Signalton der Ampel kaputt ist, er konnte nicht sehen, dass sie rot war und als der Zug kam… Jasmin hat ihn von den Gleisen geschubst, war dann aber selbst nicht mehr schnell genug. Es ist so tragisch!“ Alle nickten. „Eine richtige Heldin, die kleine Jasmin.“, sagte Doris und alle pflichteten ihr bei. Jasmin, die immer fröhliche, immer hilfsbereite – natürlich hatte es nur ein Unfall sein können, natürlich war sie eine Heldin. Keine von ihnen hätte je etwas anderes gedacht.